Harun Farocki †

Harun Farocki †
1966
Harun
Farocki †
Statt einer Vita:

Sonne ohne Schatten – für Harun Farocki (von Gert Conradt)


Über seinen Tod möchte ich mit Harun persönlich sprechen:

Das letzte Mal habe ich Dich bei der Eröffnung Deiner Ausstellung „Ernste Spiele“ im Hamburger Bahnhof getroffen – einem Tempel zeitgenössischer Kunst.

Während der Eröffnungsreden standest Du am Rand im Publikum. Ich machte drei Fotos von Dir - mehr aus der Distanz. Es war eine feierliche Stimmung, würdevoll. Ich wollte ein Portrait machen, Deinen Kopf - fand das aber zu voyeuristisch. Journalisten haben dafür lange Brennweiten, ich hätte mich vor Dir aufstellen und abdrücken müssen.

Du sahst hager aus, die Haut war grau, Du wirktest erschöpft. „Er arbeitet zu viel, er ist krank“, dachte ich.

Viele Menschen waren gekommen, Deine Familie, MitarbeiterInnen, KollegInnen vom Fach Kunst. Alt und Jung. Du bist populär geworden. Unter Deinen Fans waren viele Frauen. Du hattest eine erotische Ausstrahlung. Ich erinnere mich an einen frühen Artikel in der Pop-Zeitschrift „twen“: Meine Nächte mit Harun. Ich war neidisch. Du warst einer der begehrtesten SDS-Playboys. Einer, der auch durch Gedanken verführte.

In einem großen dunklen Raum im Seitengebäude des Hamburger Bahnhofs hingen Leinwände von der Decke. Auf den Vorder- und Rückseiten wurden Bewegtbilder – Filme und Videos – als Endlosschleifen gezeigt. Das reflektierende Licht der Leinwände erhellte den Raum. Die BesucherInnen verweilten oder liefen andächtig wie Scherenschnitte durch das Dämmerlicht.

Auch Nicht löschbares Feuer, Dein erster Film, ein Klassiker aus der Zeit des Vietnamkrieges, für den ich die Kamera gemacht hatte, wurde gezeigt. Für die Ausstellung war der Film restauriert worden. Das Filmkorn war durch digitale Pixel ersetzt worden. Die Filmbilder hatten eine brillante Schärfe, eine gesäuberte Oberfläche, die bei mir, dem Macher der Bilder, Staunen verursachte. Von seiner alten Aura befreit, präsentierte sich der Film in der musealen Umgebung – klinisch rein - mit neuem Warenwert.

Du standest zwischen den Bildern und Besuchern, nicktest hier- und dorthin, stimmtest zu, Lob wehrtest Du nicht ab. Du warst zugewandt und zugleich abwesend - auf Deine sehr spezielle Art. Mit Deinen Händen dirigiertest Du Deine gleitenden Gedanken, mit einem Kopfnicken unterstrichst Du Deine Aussagen. Oft endete ein Satz mit einem Lachen, das sagte: „So könnte es gewesen sein.“

Am Tag vor Deinem Tod war ich mit meiner Frau bei ihrer zweiundneunzigjährigen Mutter zu Besuch. Am liebsten saß die alte Dame am Fenster und las in ihren Tagebuchaufzeichnungen. Sie sprach wenig. Ich sortierte Fotos auf meinem Chip und stieß dabei auf die drei Bilder mit Dir aus dem Hamburger Bahnhof. Da war wieder dieser hagere, nachdenkliche, erschrockene, ungläubige Harun – um den es hier gegangen war und der sich dagegen wehrte, selbst Ausstellungsgegenstand zu sein. Ich beschloss, sobald ich in Berlin bin, rufe ich Dich an. Ich wollte wissen, wie es Dir geht.

In der Nacht hatte ich einen Traum. Ich sah Dich in einem großen Feuerkreis stehen. Das Feuer gefährdete Dich nicht. Du standest eingehüllt in einen Kapuzenmantel – wie Giordano Bruno auf dem Campo de‘ Fiori in Rom. Dein Gesicht war nur als Silhouette, im Anschnitt, zu erkennen.

Am nächsten Tag auf der Rückfahrt nach Berlin kam eine dringende Warnung vor einem Geisterfahrer aus dem Verkehrsfunk. Der befand sich genau in dem Abschnitt, auf dem wir fuhren. Kaum hatten wir die Warnung gehört, sprangen die Signale des Verkehrsleitsystems von 120 auf 60 km/h. Das sah nach Gefahr aus. Wir reihten uns zwischen die LWS auf der rechten Spur ein. Einige Autos fuhren ungebremst weiter. Es dauerte nicht lange und es bildete sich ein Stau. Nur die rechte Spur kam im Schritttempo voran.

Erst sahen wir Blaulichter, dann Rauch, dann Rettungsfahrzeuge, einen Hubschrauber in der Luft. Wir kamen zum Unfallort. Mehrere Autos waren ineinander verkeilt, rauchten, ein Auto war über die Leitplanke geschleudert worden und hatte dort den Verkehr zum Stillstand gebracht. Überall Glassplitter. Eine vermutlich tote Person lag zugedeckt auf einer Bahre, eine andere, in eine Goldfolie gehüllt, lag mit den Füßen nach oben am Autobahnrand. Das Geschehen erinnerte an Godards Film Weekend.

Kurz vor Hannover gab es wieder eine Staumeldung. Bei der nächsten Ausfahrt verließen wir den Highway und fuhren durch unbekannte Dörfer und Landschaften in einer Kolonne mit vielen anderen Fahrzeugen. Die LKWs auf den Landstraßen erinnerten mich an Elefanten und ich dachte, so muss es gewesen sein, als Hannibal über die Alpen zog.

Noch immer unter dem Schock des Erlebten legten wir in Giffhorn eine Rast ein, als mich eine SMS von einer Freundin aus der Schweiz erreichte: „Harun ist tot.“ Die Fotos, der Traum, der Unfall.

In meinem Film Video Vertov kommentiere ich ein Dokument, in dem ich mit anderen dffb-Studenten über den politischen Film 1968 diskutiere. Heute kritisiere ich mich dafür, dass ich damals nicht über das sprach, was mich bedrückte, darüber, dass unserer Familie das Geld zum Leben fehlte – wir aber über die Weltrevolution fabulierten. Du ergänzt in Deiner letzten E-Mail meine Anmerkung: „Damals haben wir auch nicht darüber gesprochen, dass wir alle Konkurrenten sind.“

Es wird gesagt, dass der Mensch im Moment des Todes sein ganzes Leben wie in einem Zeitraffer erlebt. War es so bei Dir?

Unter dem Titel Was zählt! wird es am 08.11.14 einen Abend geben, an dem an Dich erinnert wird. Der nächste Tag, der 9. November, ist ja der „Schicksalstag“ der Deutschen. Mauerfall, Hitler, Reichskristallnacht – und unser Studienfreund Holger Meins starb vor vierzig Jahren an diesem Tag – . Für Holger galt: „das einzige WAS ZÄHLT ist der Kampf – jetzt, heute, morgen, gefressen oder nicht. Was interessiert, ist, was Du draus machst: ‘n Sprung nach vorn. Besser werden. Aus den Erfahrungen lernen. Genau das muß man daraus machen. Alles andere ist Dreck. DER KAMPF GEHT WEITER.“ (1974)

Viele Fragen sind offen: Wie bist Du gestorben? Gibt es Zeugen, Fotos? Eine Totenmaske? Hattest Du ein Testament geschrieben, eine Patientenverfügung verfasst? Wurdest Du begraben, verbrannt?

War der Moment Deines Todes ein eiskalter Hauch, ein heißer Blitz, eine Erlösung? Bis Du auf- oder abgestiegen? Dein Leben als Intermezzo, als Sonne ohne Schatten?

Auch die „Toten Hosen“ fragen: „Was zählt?“ Und antworten: „Nur die Liebe zählt.“
2014/2015, Das Wetter in geschlossenen Räumen, Dramaturgie

2013/2014, Phoenix, Drehbuch-Mitarbeit

2013, Sauerbruch Hutton Architekten, Regie, Drehbuch

2012, Ein neues Produkt, Regie

2011/2012, Harun Farocki präsentiert: La Verifica Incerta, Regie

2011/2012, Barbara, Drehbuch-Mitarbeit

2010/2011, Etwas Besseres als den Tod, Dramaturgie

2008/2009, Zum Vergleich, Regie, Drehbuch, Produzent

2008, Ich gehe jetzt rein, Produzent

2008, Jerichow, Dramaturgie

2007, Memories - Jeonju Digital Project 2007, Regie

2007, Aufschub, Regie, Drehbuch, Schnitt, Produzent

2007, Übertragung, Regie, Kamera, Produzent

2006/2007, Yella, Dramaturgie

2005/2006, Am Rand der Städte, Produzent

2005, Aufstellung, Regie, Drehbuch

2004/2005, Die Hochzeitsfabrik, Produzent

2004/2005, Gespenster , Drehbuch, Dramaturgie

2004, Nicht ohne Risiko, Regie, Drehbuch, Produzent

2003, Auge/Maschine III, Regie, Idee

2002/2003, Erkennen und Verfolgen, Regie, Drehbuch, Kamera, Produzent

2002/2003, Wolfsburg, Dramaturgie

2001, Toter Mann, Dramaturgie

2001, Auge/Maschine, Regie, Drehbuch, Schnitt, Produzent

2001, Die Schöpfer der Einkaufswelten, Regie

2001, Auge/Maschine II, Regie, Drehbuch, Produzent

2000, Die innere Sicherheit, Drehbuch

1999/2000, Gefängnisbilder, Regie, Drehbuch, Produzent

1999/2000, Deutsche Polizisten, Produzent

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1997, Stilleben, Regie, Drehbuch, Schnitt, Produzent

1997, Nach dem Spiel, Produzent

1996, Der Auftritt, Regie, Drehbuch, 2. Kamera, Produzent

1995/1996, Cuba Libre, Dramaturgie

1995, Schnittstelle, Regie, Drehbuch, Produzent

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1994/1995, Pilotinnen, Dramaturgie

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1988, Kinostadt Paris, Regie, Drehbuch

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